Gute Noten- du bist klug.
Schlechte Noten- du bist dumm.
Mit dieser Schublade bin ich aufgewachsen und in diesem Glauben befinden sich auch heute sicher noch viele Eltern, die das so an ihre Kinder weitergeben.
Mein Bewusstsein dafür kam nicht mit Kind 1, der in der Grundschule regelrecht notengeil war und kein Problem hatte abzuliefern.
Er brachte in jedem Leseverständnistest eine 4 heim und wir konnten herzlich drüber lachen, weil diese 4 ihm so gar nichts anhaben konnte.
Ja, damals mochte ich Noten auch schätze ich. Ich war stolz, denn ein bisschen war es auch mein Verdienst. Ich hab viel Zeit investiert.
Sohn 2 lehrte mich Umdenken und ich wusste, mit ihm muss ich anders verfahren.
Er ist anders und meine bedingungslose Liebe, Üben und Zeit reichen hier nicht.
Schnell beschloss ich, dass Noten ihm niemals seinen Wert widerspiegeln sollen.
Auch wenn sich in meinem Kopf alte Muster abspielten: „Was? NUR ne Drei?“
Ich habe mir so sehr auf die Zunge gebissen, es nicht auszusprechen. Ich schenke seinen Noten nicht viel Beachtung. Den guten nicht, den schlechten nicht.
Ich unterschreibe meist wortlos. Bei guten Noten ist seine Belohnung die Freude darüber. Weder gibt es Geld dafür, oder Geschenke, noch eine besondere Anerkennung.
Er soll nie Angst haben mir einen Test vorzulegen. Das ist das Ziel.
Oft besprechen wir noch einzelne Aufgaben, wenn ich Defizite erkenne.
Manchmal aber auch nicht, weil in unserem Bildungssystem rast man ja gleich zum nächsten Thema. Nach der geschriebenen Arbeit interessiert es niemanden mehr.
Ich messe ihn maximal an sich selber:
„Schon besser als beim letzten Mal, das Üben hilft. Langsam verstehst du es hab ich das Gefühl.“
Er kämpft mit seinem Selbstwert, traut sich wenig zu und bekommt natürlich durch die Noten gespiegelt:
„Ein Überflieger bist du ja nicht gerade. Du bist langsamer als andere und schlechtere Noten hast du auch!“
Seine Mathelehrerin erzählte mir von einem Vier- Augen – Gespräch mit ihm. Ihr fehlt Ehrgeiz und Ansporn an ihm. Sie erzählte, was er ihr gesagt hat:
„Noten sind mir egal!“
Sie war natürlich empört darüber. Und mein Herz ist gewachsen. Die Samen tragen Früchte. Meine Stimme ist laut genug und ist ein Schutzschild gegen all diese Noten, die auf ihn einprasseln.
Mir sind Noten auch egal. Völlig. Was die Lehrerin nicht weiß: mir ist nicht egal, ob er sein Bestes gegeben hat.
Manchmal frage ich ihn beim Unterschreiben der Note, ob er sich Mühe gegeben hat. Dass er geübt und gelernt hat, weiß ich ja am besten. Wenn er „ja“ sagt, ist es genug, unabhängig der Note.
Ich liebe es genau mit ihm inspirierende Filme zu schauen und ihm viele inspirierende Geschichten zu erzählen.
Meist von berühmten Menschen, ihrem Scheitern und wie sie dann doch mit etwas groß rauskamen.
J.K Rowling, alleinerziehende Mama, verprügelt vom Ehemann und sitzengelassen, arm und mittellos. Zig Verlage lehnten Harry Potter ab. Was draus wurde weiß jeder.
Unser Film heute. Eine wahre Geschichte über eine 64 jährige Frau, die 161 km von Kuba bis Florida geschwommen ist. 5 Versuche brauchte sie und 4 mal ist sie gescheitert.
Zwei ihrer Drei ersten Sätze am Ziel:
1. Gebt niemals auf
2. Ihr seid nie zu alt etwas zu beginnen
Gern erzähl ich ihm auch die Sicht von Caroline von St. Ange im Bezug auf Noten:
Das eine Kind kann mit 4 schon richtig gut Fahrradfahren. Ein anderes lernt es erst mit 6. Am Ende können beide gleich gut fahren und es spielt keine Rolle, wer es zuerst konnte.
Hätte man damals Noten verteilt, hätte das eine Kind ne 1 bekommen, das andere eine 6. Verteilt man die Noten, als beide es können, bekommen beide eine 1.
Noten sind maximal eine Momentaufnahme. Wer heut ne 4 hat, sollte ein paar Wochen später zum gleichen Thema nochmal überprüft werden und dann an sich selber gemessen werden.
Aber dieses…jedes Kind, zum gleichen Zeitpunkt, das gleiche Wissen, den gleichen Lernstand…das ist Quatsch.
Er hatte ein Mädchen in der Klasse, die wegen schlechten Noten trotz Wiederholen der Klasse in die Förderschule wechselte.
Schnell war die Schublade für dieses Kind klar benannt: „Die ist so dumm!“
Ich erkläre ihm, dass Noten rein gar nichts mit ihrem IQ zu tun haben.
Dieses Kind kommt aus keinem guten Elternhaus. Es ist weder sicher, noch kennt es gesundes Essen, einen geregelten Tag, oder eine liebende Familie.
Sie bekommt keinerlei Unterstützung. Null. Mit ihr setzt sich weder jemand hin, noch schaut jemand nach Hausaufgaben. Dieses Kind hat keine Chance gehabt. In einer anderen Familie, mit etwas Unterstützung, mit anderen Bedingungen, hätte sie vielleicht ganz, ganz andere Noten.
Ich wünsche jedem Kind wie meinem eine Lehrkraft, die es sieht. Als Ganzes und nicht als Note.
Eine Lehrkraft wie die von Kind 1, die unter seine Note schrieb:
„Bleib dran, oft zeigt es sich noch nicht gleich. Aber ich sehe dich, wie du dich anstrengst und dass du schon so lang so gut mitmachst. Das wird!“
Mein Sohn und ich sind uns einig. Wenn es für Hilfsbereitschaft, das größte Herz, Mitgefühl und Courage, Einsatzbereitschaft, Ausdauer beim Fussball und all das Noten geben würde, dann hätte er die Einser sicher.